Der Bystander Effekt |
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Hofbauer Stefan am 16.1.2015 | |
16 Jan
Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich ein Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. (Immanuel Kant) Egal welches tragische Ereignis uns in den Medien berichtet wird, der Ruf nach Schuldigen folgt wie das Amen in der Kirche. Und es ist dies ein Reflex von Unmündigen. Sobald ein Schuldiger gefunden ist, können wir uns in unsere kindliche Unschuld und Unmündigkeit zurückfallen lassen und getrost unser Leben weiterleben als ob nichts gewesen wäre. Das berühmte Zitat von John F. Kennedy: "Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!", ist ein Appell an die Eigenverantwortung und erfasst den Kern dieser Thematik. Denn Fakt ist, schlimme Dinge wie Krankheiten, Unfälle, Terroranschläge oder Naturkatastrophen passieren und zwar ganz egal, wie sehr wir uns abzusichern versuchen oder in einer illusionären Sicherheit wähnen. Wir sind als Menschen überaus verletzlich und wir sind sterblich. Keine noch so fortgeschrittene Wissenschaft oder Politik kann das ändern. So ereignete sich beispielsweise am 26.12.2014 ein tragischer Vorfall in einer Wiener U-Bahn-Station. Ein 58 Jahre alter Mann erlitt einen Herzinfarkt in einem Aufzug der Wiener Linien und stundenlang hat ihm niemand geholfen oder auch nur den Notruf betätigt. Der Vorfall erlangte in den Medien und den Diskussionsforen der diversen Zeitungen und Online-Medien große Aufmerksamkeit. Liest man die Diskussionsbeiträge der einzelnen Tageszeitungen, so überschlagen sich dort die Mitdiskutierenden mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die einen sagen, die Wiener Linien seien Schuld an dem Vorfall und rufen nach noch mehr Überwachungskameras, die anderen beschuldigen Passanten des Egoismus, der Rücksichtslosigkeit und Gefühllosigkeit. Aber geht es hier wirklich um Schuld? Oder wäre es nicht auch eine Möglichkeit, angesichts dieses Vorfalles inne zu halten und uns zu fragen, wie wir reagiert hätten? Was könnten wir selbst tun, wie könnten wir uns selbst vorbereiten, um in einer derartigen Situation verantwortlicher, erwachsener und hilfreicher zu reagieren? Vielleicht wäre es auch gut zu wissen, wie die wissenschaftliche Psychologie einen derartigen Vorfall erklärt? In der Sozial-Psychologie wird dieses Verhalten bereits seit 50 Jahren intensiv beforscht, seit die Amerikanerin Kitty Genovese 1964 einem Mordanschlag zum Opfer fiel und das, obwohl angeblich 38 Personen den Vorfall beobachten konnten und ihr dennoch nicht zu Hilfe kamen. In der psychologischen Literatur wird dieses Verhalten von Menschen als Bystander Effekt (engl. Bystander Apathy) oder nach Kitty Genovese auch Genovese Syndrom genannt. Heute existieren zahlreiche Theorien für die Ursache eines derart asozialen Verhaltens. Unter anderem wird als Ursache die mangelnde Einschätzbarkeit der Dringlichkeit des Notfalls vermutet. Als weitere Ursache wird die sogenannte pluralistische Ignoranz angenommen. Das bedeutet, dass Umstehende wahrnehmen, dass auch andere Menschen nicht geholfen haben, und aus diesem Grund annehmen, die Situation könne nicht so schlimm sein. Wichtige Faktoren, ob Menschen einem anderen zu Hilfe kommen, sind u.a. auch Zeitdruck, die Eindeutigkeit einer Situation, Informiertheit über Notfälle und bisherige Erfahrungen damit. Auch der (vermutete) Grad, in dem wir uns durch die Hilfeleistung selbst in Gefahr brächten, spielt eine Rolle. Und zuletzt könnte auch die großstädtische Reizüberflutung ein Faktor sein, der beeinflusst ob wir helfen oder nicht. In unterschiedlichen Experimenten konnte gezeigt werden, dass Menschen unter Zeitdruck sehr viel seltener Hilfe leisten, als Menschen in einer entspannten Freizeitsituation. Bei Autounfällen (eindeutiger Notfall) wird wesentlich wahrscheinlicher Hilfe geleistet, als bei zusammengebrochenen Personen in einer belebten Straße. In letzterer Situation kann nicht klar eingeschätzt werden: schläft die Person, ist sie betrunken, handelt es sich um einen Obdachlosen oder hat die Person ein medizinisches Problem? Die Hilfeleistung steigt, wenn jemand vor kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hat oder wenn jemand schon häufiger mit Notfällen konfrontiert war und die Rettung rufen musste. Naheliegend ist auch, dass Passanten sehr viel seltener Hilfe leisten, wenn sie sich dadurch selbst in Gefahr bringen würden (beispielsweise, wenn jemand mit einer Waffe bedroht wird). Und nicht zuletzt dürfte auch die großstädtische Reizüberflutung eine Rolle spielen, die dazu führt, dass Menschen ihre Grenzen enger ziehen, nach dem Motto: "Ich kann mich nicht um alles kümmern!" Tatsächlich zeigte sich in diversen Studien, dass die Bevölkerungsdichte ein wichtiger Faktor ist, ob geholfen wird oder nicht. Mit anderen Worten: wird eine zusammengesunkene Person in einer ländlichen Umgebung gefunden, ist es überaus wahrscheinlich, dass ihr geholfen wird. Passiert das Gleiche am Stephansplatz in Wien, könnte es sehr lange dauern, bis irgendjemand darauf reagiert. Die für mich plausibelste Theorie ist aber die Vermutung der "Verantwortungsdiffusion". Befinden sich andere Personen in der Nähe einer hilfsbedürftigen Person, wird lieber darauf gewartet, dass jemand anderer hilft. Diese Theorie erscheint mir insofern am wahrscheinlichsten, als wir das Bedürfnis vieler Menschen, Verantwortung abzugeben, tagtäglich beobachten können. Am deutlichsten zeigt sich dieses Muster in der Politik. Sehr viele Menschen sind klug genug, Missstände der Politik, der Wirtschaft oder des Gesundheitswesens zu erkennen. Doch in sehr vielen Fällen wird nach Politikern gerufen, die das ändern müssten. Wie viele Menschen sind wirklich bereit, Verantwortung zu übernehmen, Bürgerinitiativen zu gründen, über Missstände in den Medien zu berichten oder sich aktiv politisch zu engagieren? Ich kenne diesbezüglich keine genauen Zahlen, vermute jedoch, dass es wenige sind. Es ist ja auch viel einfacher nach Politikern zu rufen und sich selbst zurückzulehnen. Erreicht die Politik nämlich das gewünschte Ergebnis nicht, habe ich sofort wieder einen Schuldigen zur Verfügung! Und nur nebenbei möchte ich erwähnen, dass dieser Gedanke, konsequent weitergedacht, den Schluss nahe legt, dass jedes Volk genau die Politiker hat, die es verdient... Auch in psychotherapeutischen Praxen kann dieses Muster beobachtet werden, zumal heute, wo durch die mediale Aufmerksamkeit der letzten Jahre, deutlich mehr Menschen bereit sind, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Oftmals sind aber auch Psychotherapie-Klienten sehr wenig bereit, Verantwortung für ihr Leben und ihr Verhalten zu übernehmen. Dies äußert sich in der (unbewussten) Erwartung, der Psychotherapeut möge ihre Probleme lösen oder gar, er möge die Gesellschaft da draußen für sie verändern, damit sie sich wieder seiner Erwartung gemäß verhalte. Verantwortung zu übernehmen ist mühsam, jedenfalls viel mühsamer als einfach nur zu jammern oder mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen. Die Suche nach Schuldigen könnte uns aber auch Anlass zu sein, inne zu halten und festzustellen: Moment mal, da ist etwas Schlimmes passiert, ich war überhaupt nicht dabei und fühle mich dennoch schuldig! Wie hätte ich mich denn in dieser Situation verhalten? Vermutlich müssen wir dann etwas erschüttert feststellen, dass wir selber auch vorbeigegangen wären. Und falls nicht, gibt es keinen Grund für Schuldgefühle. Verantwortung zu tragen ist aber auch erwachsen und gibt uns das Gefühl, unser Leben gestalten zu können, Unangenehmes zu verändern und dazu beizutragen, die Gesellschaft, in der wir leben, ein kleines Stück besser zu machen. Um beim obigen Beispiel zu bleiben, wären beispielsweise umfangreiche Informationen, was in Notfallsituationen zu tun ist, hilfreich. Wie ich erst gestern bemerken durfte, wird das von den Wiener Linien bereits aktiv umgesetzt, indem etwa auf den Infoscreens in den U-Bahn-Stationen genau informiert wird, was in Notfallsituationen oder im Zweifel auch unklaren Situationen zu tun ist. Ein Erste-Hilfe-Kurs alle paar Jahre dürfte uns darüber hinaus zusätzliche Sicherheit geben, die wir in kritischen Situationen benötigen. Im Sinne einer erwachsenen, (nach Kohlberg) autonomen Moral, wäre es außerdem wichtig uns zu fragen, wie wir gerne hätten, dass andere Menschen reagierten, wenn wir plötzlich in der Öffentlichkeit zusammenbrächen. Quellen http://derstandard.at/2000009947455/Mann-lag-fuenf-Stunden-in-Aufzug-Wiener-Linien-entliessen-Mitarbeiter http://de.wikipedia.org/wiki/Zuschauereffekt www.gestalttherapeut.com |
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