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Zwei Motive für Psychotherapie

Hofbauer Stefan am 17.9.2014
Mi 17 Sep "Es war einmal…"

Das ist der Satz mit dem viele Märchen beginnen und genauso märchenhaft, phantastisch und weit weg mutet es an, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Psychotherapie in den 1960-er und 1970-er Jahren nicht primär deshalb aufgesucht wurde, weil eine Krankheit vorlag. Vielmehr wollten die Menschen sich entwickeln, wollten ihr volles Potenzial entfalten und quasi im Nebenher vorhandene Symptome beseitigen.

Depressionen, Angststörungen und Zwänge waren sicherlich auch damals schon bekannt. Aber ein viel wichtigeres Ziel, um eine Psychotherapie aufzusuchen, war Selbstverwirklichung, ein Begriff, den nicht zuletzt Abraham Maslow prominent gemacht hat. Man versteht darunter die möglichst weitgehende Realisierung der eigenen Ziele, Wünsche und Sehnsüchte oder das umfassende Verwirklichen der eigenen Anlagen.

In der Hierarchie der Bedürfnisse steht Selbstverwirklichung an der Spitze, nach körperlichen Grundbedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen sowie dem Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung. Auch C.G. Jung schrieb im Grunde schon von dieser Hierarchie, wenn er davon ausging, dass in der Psychotherapie zuerst neurotische Symptome durchgearbeitet werden müssten und dann erst der Individuationsprozess begänne, jener Prozess bei dem der Mensch am Ende erst der werde, der er ist.

Krankenbehandlung

Auch heute noch gibt es diese zwei Motive, um eine Psychotherapie zu beginnen. Einerseits die Linderung oder Beseitigung von Krankheitssymptomen und andererseits die Persönlichkeitsentwicklung, wie das auch dem Gesetzestext (Psychotherapiegesetz, §1) entspricht:

"Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewußte und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern."

Aber die Zeiten haben sich in den letzten 50 Jahren gravierend verändert. Das zeigt sich schon darin, dass "die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten" im Gesetzestext erst ganz am Schluss, quasi nebenbei, erwähnt wird.

Effizienzdruck, Materialismus und Nützlichkeitsdenken haben dieses Motiv für eine Psychotherapie inzwischen fast gänzlich verschwinden lassen. Selbstverwirklichung ist nicht nur aus der Mode gekommen, sie gilt heute fast schon als weltfremd und versponnen. Wirtschaftliche Überlegungen und Trends tun ein Übriges, um dieses Anliegen in der heutigen Werteskala weit hinten einzureihen.

Und so ist es (auch) eine traurige Tatsache, dass wir in der westlichen Welt de facto nicht über ein Gesundheitswesen verfügen, sondern über ein Krankheitswesen. Die Ansätze der positiven Psychologie (Seligman) oder der humanistischen Psychologie (Maslow) sind rühmlich, aber sowohl in der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Diskussion meines Erachtens kaum wahrzunehmen.

Dabei wäre die Suche nach Sinn, die Verwirklichung der eigenen Anlagen und die Initiation der dem Menschen immanenten Selbstheilungskräfte heute wichtiger denn je.

Wir rühmen uns so gerne unseres technischen Fortschritts und unserer Toleranz, aber im Inneren fühlen sich viele Menschen nur noch leer und ausgebrannt. Das Leben scheint mit der äußeren Bequemlichkeit eher sinnloser als sinnvoller zu werden. Angsterkrankungen und Depressionen nehmen Jahr für Jahr zu und psychische Erkrankungen sind inzwischen Hauptgrund für Arbeitsausfälle oder frühzeitige Pensionierungen. Insofern scheinen wir gesellschaftlich in eine radikale (bis an die Wurzeln unseres Seins gehende) Krise geraten zu sein.

Es gilt heute mehr und mehr als Tabu, nach Bedeutung und Sinn zu fragen. Sehr schnell wird man als Esoteriker, Frömmler oder geistig unzurechnungsfähig hingestellt. Das Bundesministerium für Gesundheit fand es in Österreich diesen Sommer sogar für nötig, eine sogenannte "Esoterikrichtlinie" herauszugeben, denn schließlich sei Psychotherapie streng wissenschaftlich und Esoterik, Schamanismus, Energiearbeit, Gebet, etc. seien das nicht.

Mit ist natürlich klar, dass es ein berechtigtes Anliegen sein kann, seriöse psychotherapeutische Arbeit von unseriösen Angeboten zu unterscheiden. Diese massiven Abgrenzungsbemühungen der letzten Jahre in Richtung sinnstiftender und weltanschaulicher Angebote wirken aber auf mich sehr angstgetrieben. Sollten wir uns nicht vielleicht fragen, warum so viele Menschen Orientierung in der sogenannten Esoterik suchen? Und muss es nicht (auch) ein Ziel eines guten Therapeuten sein, den Menschen auf ihrer Sinnsuche behilflich zu sein und Werkzeuge an die Hand zu geben, Wertvolles vom Verwirrenden zu unterscheiden?

Wenn wir davon ausgehen, dass es notwendige Voraussetzung für einen Therapeuten ist, sich selbst soweit entwickelt zu haben, dass er Sinnfragen in der Therapie überhaupt erkennen kann, dann sind allzu starre Abgrenzungen möglicherweise nicht sinnvoll. Oder wie Maslow schreibt: "Der Wahrnehmende hat sich der Wahrnehmung würdig zu zeigen. Oder besser gesagt, sie müssen einander wie gut oder schlecht verheiratete Ehepaare verdienen. Güte kann eigentlich nur von einem gütigen Menschen wahrgenommen werden. Eine psychopathische Persönlichkeit wird nie imstande sein, Güte, Gewissen, Moral oder Schuld zu verstehen, da sie selbst nichts davon hat." (Maslow, 2014) Konsequent weitergedacht bedeutet das auch, dass ein atheistischer Psychotherapeut oder einer, der sich selbst niemals die Sinnfrage gestellt hat, einen religiösen Klienten niemals verstehen kann.

Emanzipation und Selbstverwirklichung

Wenn wir von den Krisen- und Kriegsherden dieser Welt einmal absehen, betrachten die Medien es heute als weltbewegend, wenn Samsung oder Apple ein neues Handy herausbringen, wenn Facebook für 30 Minuten ausfällt oder wenn ein Fernsehunternehmen uns künftig mit noch mehr geistigem Müll via Internet und Fernsehen versorgen möchte. Man kann sich schon fragen, ob das gezielte und gesteuerte Ablenkung von Seiten der Politik ist oder ob diese völligen Bedeutungslosigkeiten tatsächlich das sind, was die Menschen heute am meisten interessiert.

Psychologisch betrachtet ist es im Interesse der Politik und vor allem der Wirtschaft, wenn die Menschen innerlich leer und von Sinnlosigkeitsgefühlen erfüllt sind. Denn nur dann sind sie gute Konsumenten. Der Konsum vermag diese innere Leere für eine kurze Zeit zu füllen. Und wenn man etwas aufmerksam ist, bemerkt man, wie wir rund um die Uhr und an den unmöglichsten Orten (beispielsweise auch in WC-Anlagen, in der U-Bahn oder im Flugzeug) permanent zum Konsum verführt werden sollen.

Es kann nicht im Interesse der Wirtschaft sein, wenn Menschen in Psychotherapie gehen, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Innere Zufriedenheit, ein von Bedeutung und Sinn erfülltes Leben und selbstverwirklichte Individuen haben viel weniger Bedürfnis zu konsumieren. Ja, sie werden sogar recht häufig die Frage stellen: Brauche ich das überhaupt? Und ich bemerke in letzter Zeit tatsächlich immer mehr - auch junge - Menschen, die sich die Frage stellen, warum sie eigentlich so viel arbeiten sollten, wenn sie auch mit weniger Einkommen zurecht kommen. Das sind gute Entwicklungen und Horror-Visionen für eine konsumgetriebene, materialistische Gesellschaft und Wirtschaft.

Dass das Stellen von Sinnfragen und die spirituelle Suche Lösungsmöglichkeiten sein könnten, liegt für mich auf der Hand.

Es mag dem Zeitgeist völlig zuwiderlaufen, wenn ich hier ein Plädoyer für Selbstverwirklichung als Motiv für eine Psychotherapie halte. Zu sehr scheinen Politiker, Kassenvertreter und auch Berufsverbände nur auf effiziente Krankenbehandlung fixiert zu sein. Die Frage aber, warum sich in unserer Zeit so viele Menschen krank und elend fühlen, wird überhaupt nicht gestellt. Und die Menschen fühlen sich ausgebrannt, obwohl unsere westliche Gesellschaft so reich ist wie nie zuvor in der Geschichte und eigentlich sämtliche physiologischen, Sicherheits- und sozialen Bedürfnisse erfüllt sein sollten, selbst dann, wenn manche gegenwärtig den Gürtel ein wenig enger schnallen müssen.

Und solange diese Frage nicht gestellt wird, behandeln wir auch kollektiv nur immer neue Symptome, die einmal Hysterie und ein anderes Mal Burnout heißen. Menschen sind keine Maschinen und wir sollten endlich aufhören so zu tun als könnten kaputte (und von Wirtschaft und Politik kaputt gemachte) Menschen einfach mit ein paar Handgriffen repariert werden und würden dann wieder reibungslos funktionieren.

Das Problem geht sehr viel tiefer. Wir befinden uns kollektiv in einer derart umfassenden Sinn- oder spirituellen Krise, dass psychische Probleme eher schon ein Zeichen von Gesundheit als von Krankheit darstellen. Denn nur die Unsensibelsten und Empfindungslosesten können angesichts dieser Krise noch halbwegs unbeeindruckt bleiben.

C.G. Jung sagte einmal, dass er noch keinen Patienten getroffen habe, dessen Problem nicht im Letzten ein religiöses Problem gewesen sei. Ich verstehe diesen Satz so, dass die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung die grundlegendste und quälendste für sehr viele Menschen ist. Die mechanistische Auffassung von Symptombeseitigung hingegen und die allzu enge Auffassung von Wissenschaft, die nur das zulässt, was in die bereits vorhandene Wissensstruktur passt ("ich bin der Direktor des Colleges; was ich nicht weiß, ist kein Wissen." zit. nach Maslow, 2014), ist kleinkrämerisch und ebenso fundamentalistisch wie die angefeindete Esoterik es bisweilen ist.

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Maslow, Abraham H. (2014). Jeder Mensch ist ein Mystiker. Peter Hammer Verlag.

Polster, Miram und Erving (2001). Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag.

Seligman, Martin E. P. (2010). Der Glücksfaktor. Warum Optimisten länger leben. Bastei Lübbe.

www.gestalttherapeut.com
Emanzipation Krankenbehandlung Selbstverwirklichung Sinnfrage Zeitgeist
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